Es war die Zeit,

als wir noch alle lange Haare trugen und per InterRail-Ticket die Mädels in ganz Europa aufsuchten. Wir fühlten uns als Linke, wollten die Welt verändern und lasen neben der Mao-Bibel und dem Kapital die Werke von Adorno, Sartre, Markuse und Oswald Kolle.

Montags lasen wir den Kicker.

Getanzt, geknutscht und gekifft wurde zu Cream, Hendrix, Doors, Rolling Stones, Bob Dylan und Cat Stevens. Persico und Apfelschnaps sowie Lambrusco aus Zweiliter-Flaschen gehörten zu jeder gescheiten Beat-Party.

Der deutsche Fußball stand im Zenit. Der Europameister von 1972 war das Beste, was der DFB jemals zu bieten hatte. Spieler wie Sepp Maier, Beckenbauer, Netzer, Overath, Gerd Müller, Grabowski und Hölzenbein waren unsere sportlichen Vorbilder.

Dies war genau der richtige Moment, um beseelt von den tollen Spielen der Nationalmannschaft im Frühjahr 1973 unser eigenes Dreamteam aufzubauen. Wir waren zunächst ein bunt zusammen gewürfelter Haufen von Freunden und Schulkameraden. Die fußballerischen Qualitäten waren sehr unterschiedlich verteilt. Einige hatten Probleme, den Ball überhaupt zu treffen, während andere durch den Helmut-Haller-Trick und Ähnliches glänzten. Was uns alle verband war die pure Lust am Fußballspiel und an sportlicher Betätigung.

Mangels genügender Spieler und eines geeigneten Platzes begannen wir zunächst auf einer Liegewiese am Mainzer Lerchenberg in Blickweite des ZDF und seines Aktuellen Sportstudios zu kicken. Mit zunehmender Spielerzahl wechselten wir dann ein paar Monate später auf den Bolzplatz neben der Lerchenberger Grundschule.

Natürlich brauchten wir auch einen Namen, der sich von dem Muff der kleinbürgerlichen Thekenmannschaften (FC Rundes Eck, Germania Eck, Schüttrein Zwerchallee usw.) abhob. Die Namen der damals ebenfalls gegründeten Mannschaften von Satan Weisenau oder Alligator Gonsenheim gefielen uns da schon besser. Allein, es fehlte uns der internationale Bezug. In geselliger Runde und nach einigen Bierchen in der damaligen Mainzer In-Kneipe „Brauhaus zur Sonne“ (ein großes Bier kostete seinerzeit noch 55 Pfennige) standen dann drei Vereinsnamen zur Abstimmung bereit: Barfuß Bethlehem, Schildkröte Damaskus und Ente Bagdad. Wir entschieden uns einstimmig für Ente Bagdad, weil Bagdad damals das Synonym für Märchen aus 1001 Nacht war und dies unsere Spielweise am besten beschrieb.

Jetzt galt es nur noch, einen ersten Gegner zu finden, um unsere spielerischen Fähigkeiten demonstrieren zu können. Werner hatte die glorreiche Idee, mit einem Freundschaftsspiel in Bagdad auf uns aufmerksam zu machen. Wir waren alle gleich Feuer und Flamme ob dieses genialen Vorschlags. Er bekam daher den Auftrag, an den DFB zu schreiben, um sich die Adresse des irakischen Fußballverbandes schicken zu lassen. Leider vergaß Werner, seiner Anfrage einen frankierten Rückumschlag beizulegen. So erhielten wir bis heute keine Antwort.

Unser erster Gegner im Sommer 1973 kam daher nicht aus Bagdad, sondern aus Mainz und hieß FC Vincenz. In seinen Reihen spielten bekannte regionale Persönlichkeiten wie Klaus (er wechselte kurze Zeit später zur Ente) und Peter Delorme (Söhne des damaligen Sozialdezernenten und Bürgermeisters von Mainz). Gespielt wurde auf holprigem Gras in der Grünanlage neben dem Vincenz-Krankenhaus; als Tore dienten bunte Stahlrohr-Klettergerüste, wie sie seinerzeit auf Kinderspielplätzen in Mode waren. Um das gegnerische Team bereits durch unser Outfit zu beeindrucken, hatten Werner und Ronald die ersten Enten-Trikots besorgt: Wir traten frei nach Roy Blacks damals erfolgreichem Hit „Gan(s)z in Weiß“ an. Und die gelbe Ente auf der Brust sowie die Beschriftung auf dem Rücken wurden von uns in mühevoller Kleinarbeit aufgebügelt.

Leider findet sich der erste Spielbericht weder im Archiv des Kickers, der Bild-Zeitung noch in Ronalds Unterlagen. Trotzdem konnte mittels Gedächtnisprotokoll und Zeitzeugen glaubhaft recherchiert werden, dass das Spiel von Anfang an auf beiden Seiten durch hohes Engagement und Leidenschaft geprägt war. Die von Werner während der Mathestunden akribisch ausgearbeitete Taktik ging in den ersten Minuten des Spiels voll auf, brachte ihm in Algebra aber eine Fünf ein. Das offensiv ausgerichtete Ententeam um unseren weißen Brasilianer und Mittelfeldstrategen Zocky (Bernd F.) war im Sturm mit dem Goalgetter und Kopfballungeheur Caruso (Uwe) sowie dem pfeilschnellen und dribbelstarken Rechtsaußen Ronald bestens besetzt. Hinzu kam auf Linksaußen unser Artist mit dem Helmut-Haller-Trick Ernst-Fritz. Das offensive Mittelfeld wurde durch Hego, Schwäbli und Filigrantechniker Pils (Werner), dem Mann mit dem öffnenden Dreimeterpass, verstärkt. Direkt dahinter als Staubsauger standen (!) Eisenfuß Hubbes und Schädel-Harry. Im Tor lauerte der wahre Ur-Kahn, unsere kompromisslose Nummer Eins „Milo die Krake“ mit der Einarm-Faustabwehr.

Unglücklicherweise hatte letzterer ausgerechnet an diesem so bedeutenden Spieltag Liebeskummer und deshalb neben dem Tor einen Flachmann stehen. So kam es, wie es kommen musste: Der Inhalt der Flasche verhielt sich umgekehrt proportional zur Spieldauer... Die anderen offensichtlich ebenfalls übernächtigten Enten watschelten immer wilder durcheinander, verloren zunächst die Ballsicherheit – und schließlich das Spiel mit 5:1.

Dennoch waren wir für‘s Erste zufrieden: Wir hatten unser erstes Tor geschossen, hatten mit unseren blütenweißen Trikots und den längeren Haaren den Gegner modisch in den Schatten gestellt, und Milo konnte in Ruhe den Rest seines Flachmanns zu Ende trinken. Fazit: Auch die erste dicke Packung konnte die Ente nicht von ihrem Weg abbringen.

Seither gab es zahllose weitere Spiele, teils mit Niederlagen, aber auch mit vielen großartigen Siegen. Dabei gilt noch heute wie auch beim ersten Spiel: Nicht der Sieg ist das Wichtigste, sondern der Spaß und die Freude am gemeinsamen Fußballspiel. 

So werden auch in den kommenden Jahrzehnten bei Ente Bagdad Toleranz und Akzeptanz weiterhin groß geschrieben. Spielstärke, Alter, Nationalität oder Religion spielen keine Rolle.